Natürlich ist dieser Tagesablauf ein Ideal. Etwa die Hälfte der Leute, die hier leben, sehe ich erst am Frühstückstisch und nur die Hartgesottenen helfen beim allmorgendlichen Putzen, um danach ein Gongyo abzuhalten, eine Art buddhistische Liturgie. Das “short meeting” findet selten vor 08.30 Uhr statt, die Arbeit beginnt meist um 09.00 Uhr.
Die Mitgliederzahl der kleinen Aussteigergemeinde fluktuiert zwischen 12 und 20 Leuten. So beginnt vor den Mahlzeiten immer eine grosse Rechnerei, wie viele Essstäbchen und Reisschälchen gedeckt warden müssen. Es ist eine bunt gemischte Gruppe von Leuten, die alle das selbe wollen: Eine Alternative zum Leben in der Stadt, die Rückkehr zum ursprünglichen Lebensstil auf dem Land.
Niemand hier ist gelernter Bauer. Aber das spielt keine Rolle, denn wie die Japaner früher, vor den künstlichen Düngemitteln und Pestiziden zu ihrem Reis gekommen sind, wissen auch die professionellen Landwirte nicht mehr. Hier ist also viel Experimentierfreude und Geduld gefragt. Die kräftigsten Reispflanzen wachsen dieses Jahr auf jenem der sieben Felder, in dem kleine Enten gehalten wurden, die alle Schädlinge frasen und mit ihren Ausscheidungen gleichzeitig für natürlichen Dünger sorgten. Bis sie vor zwei Tagen durchgebrannt sind.
Das Ziel ist es, die kleine Gemeinschaft aus der eigenen biologischen Produktion zu ernähren. Im Moment sind es Reis, Kartoffeln und Kohl, die nicht hinzugekauft werden müssen. Weiters angebaut werden Karotten, Mais, Soja- und viele andere Bohnensorten, Rettich, Sesam, Aubergine, Tomaten und Chinakohl. Das Experiment läuft seit vier Jahren, wie es finanziert wird, weiss ich auch nicht genau. Verkauft wird jedenfalls keins der landwirtschaftlichen Produkte. Mit den Teilnahmegebühren für die Camps, die hier statt finden, kommt sicher einiges zusammen (das zehntägige kostet für ein Kind CHFr 1000.-), ausserdem läuft ein Fair Trade Geschäft mit einem thailändischen Waisenhaus, wo diverses Kunsthandwerk gefertigt wird.
Die Feldarbeit wird von zwei Amateurbauern geleitet, ein älterer Tokioter und ein jüngerer aus Osaka, die seit Anbeginn dabei sind. Als Arbeitskräfte werden hauptsächlich WWOOFer eingesetzt. Das sind zur Zeit ein Amerikaner, der seit sechs Jahren in Asien herumreist, eine Japanerin, die sich eine Auszeit nach dem ersten Jahr an der landwirtschaftlichen Fachhochschule in Sapporo nimmt, eine taiwanesischen Wirtschafts- und Chinesischstudentin, die in den Semesterferien das macht, was sie eigentlich wirklich will, nämlich Japanisch lernen, ein taiwanesischer Polizeischulanwärter auf Sprachreise und ich. Auch die buddhistische Nonne und der Mönch, die mit uns zusammenleben, helfen bei der Arbeit.
Dieser Ort nennt sich Free Kids Village, weil hier Kinder im Grundschulalter wohnen können, die aus irgendwelchen Gründen nicht mehr zur Schule gehen wollten; ein Phänomen, das in Japan anscheinend immer häufiger auftritt. Im Moment leben zwei hier, ein Junge und ein Mädchen, und gehen brav zur Schule. Solche Alternativen zum normalen Schulsystem sind in Japan keine Seltenheit, sagt Takako, die Gründerin dieses Projekts, Leihmutter und erste Bezugsperson der Kinder.
Ich finde, ich hatte grosses Glück, aus der Fülle der WWOOF-Hosts genau diesen Ort hier auszuwählen.
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